Mit Volldampf nach Transsylvanien

„3 Mai. Bistritz. Verließ München um 8:35 am Abend am ersten Mai und kam früh am nächsten Morgen in Wien an; ich hätte um 6 Uhr 46 dort sein sollen, aber der Zug hatte eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine wundervoller Ort zu sein, nach dem zum schließen, was ich aus dem Zug und auf den wenigen Schritten durch die Straßen sehen konnte. Ich hatte Bedenken, mich weit vom Bahnhof zu entfernen, da wir spät angekommen waren und so dicht wie möglich an der vorgesehenen Zeit wieder weiterfahren würden. […]

Ich musste mich beim Frühstück beeilen, weil der Zug kurz vor acht ging, oder eher: weil er dann gehen sollte, denn nachdem ich zum Bahnhof geeilt war, saß ich über eine Stunde im Wagen, bevor er sich in Bewegung setzte. Mir scheint, je weiter man nach Osten kommt, desto unpünktlicher werden die Züge. Wie muss es erst in China sein?“

Auch wenn es auf den ersten Blick so klingt: Der umgeduldige Verfasser dieser Zeilen ist nicht Phileas Fogg, der mit der Präzision eines Uhrwerks und unter Nutzung der seinerzeit modernsten Verkehrsmittel in 80 Tagen um die Welt eilt, um die von Jules Verne ausgedachte Wette zu gewinnen – nein, wer sich hier über die Pünktlichkeit der Bahn im ausgehenden 19. Jahrhundert beklagt, ist ein gewisser Jonathan Harker, seines Zeichens Immobilienmakler auf dem Weg nach Rumänien, nach Transsylvanien, zum Schloss des Grafen Dracula.

Würde ein Schriftsteller von heute die berühmteste Vampirgeschichte der Weltliteratur mit solchen trockenen Notizen zu Verspätungen im Bahnverkehr beginnen lassen, anstatt gleich in den ersten Sätzen ein düsteres Schloss aus einem geisterhaft vom Vollmond beschienenen Winterwald heraussteigen zu lassen oder zumindest eine fauchende Dampflok wie ein feuerspeiendes Höllentier ein finsteres Gebirge erklimmen lassen? Wahrscheinlich eher nicht.

Doch der der Ton, den Bram Stoker bereits auf den ersten Seiten seines bekanntesten Buches Dracula anschlägt, hat tatsächlich Methode – denn die (menschlichen) Protagonisten seines 1897 veröffentlichten Romans bedienen sich bei ihrem Kampf gegen den untoten Grafen allerlei Technik auf der Höhe ihrer Zeit: So ist Jonathan Harker – solange möglich – mit der Bahn unterwegs und bedient sich bei seinen Aufzeichnungen der Kurzschrift; Dr. Seward und Van Helsing kommunizieren per Telegramm und zeichnen sogar Sprachnachrichten und Tagebuchnotizen per Phonograph auf. Bei der Fahndung  nach dem in London untergetauchten Vampir helfen Zeitungsberichte über seltsame Vorkommnisse und letztendlich hilft Lloyd’s Register of Shipping, das Schiff zu verfolgen, auf dem der Graf vor seinen Häschern wieder in Richtung Trassylvanien flieht …

Insofern ist Dracula eine Geschichte über den Sieg von Technik und Wissenschaft über den Horror, der aus dem längst überwundenen Mittelalter auf untote Weise überlebt hat, eine Erzählung von der Überlegenheit der Empirie über die Vampirie. Unterstützt wird dies durch die gewählte Form, denn es handelt sich bei diesem Buch um eine Dokumentationsfiktion (heute würde man wohl eher „Mockumentary“ sagen): Der Roman besteht ausschließlich aus aneinandergereihten Auszügen aus Tagebüchern und Sprachnotizen, Zeitungsartikeln, Telegrammen und Briefen.

Für die Zeitgenossen hat sich das sicher ungeheuer modern gelesen. Aus heutiger Sicht ist die dort aufgefahrene Technik aber gerade zum Sinnbild der Nostalgie geworden: Dampflokomotiven, Telegramme, Phonographen, gedruckte Zeitungen und Dampfschiffe – eigentlich schon die komplette Ausstattung für eine Steampunk-Geschichte.

Inktober 2018 – Schluss mit Ford Model T

Auch in diesem Jahr wollte ich eigentlich beim Inktober mitmachen – aber schon nach ein paar Tagen war klar, in diesem Jahr klappt es nicht. Ich hakte die Zeichenaktion im Kopf damit für diesmal ab – jedenfalls fast. Denn dann stolperte ich kurz vor Ende Oktober (pardon: Inktober) in einem Technikgeschichten-Buch über das folgende Foto, das mich sofort ansprach, weil es ganz offensichtlich authentisch aus den 20er oder 30er Jahren stammt, aber irgendwie wie ein Cartoon wirkt. 

Grandpa's first car, Model T coupe,with artillery wheels Edward a O'D

Es zeigt ein Ford Model T Coupé. Das bedeutet, dass die auf dem Bild gezeigte Person nicht auf einen Rücksitz gezwängt sitzt, sondern dass es der Fahrer selbst ist, der hier lässig seinen Ellenbogen aus dem Fenster hängt. Dabei handelt es sich übrigens um den Großvater jener Person mit dem Aliasnamen Jnarrin, der dieses Bild bei Wikimedia hochgeladen und freundlicherweise unter eine Creative-Commons-Lizenz gestellt hat. Danke dafür!

Blech statt Speichen

Ungewöhnlich am Auto auf dem Foto sind die Felgen aus Blech, dem Schatten nach zu urteilen leicht trichterförmig getrieben oder gepresst. Das Standard-T-Modell hatte hingegen meist Räder mit zwölf dickeren Speichen, die auch Artillery Wheels genannt werden, weil sie ursprünglich für Kanonenlafetten entwickelt wurden. Bei späteren T-Modellen gab es dann auch Drahtspeichenräder.

Möglicherweise waren es die sehr flächigen Räder und dadurch sehr prägnanten Kreisformen auf dem Foto, die mich auf die Idee brachten, dann doch noch eine erste und gleichzeitig letzte Zeichnung zum Inktober 2018 zu machen. Passenderweise war es inzwischen der 31. Oktober, der in Niedersachsen neuerdings Feiertag ist, ich hatte also Zeit, und so entstand mein Symbolbild für den gescheiterten Inktober.

Ja, das gezeigte Auto ist kein ganz echtes T-Modell und nur inspiriert durch das Foto, keine Kopie. Schon die ersten Skizzen ergaben, dass ich die Form des Autos etwas verändern musste, um die zentrale Idee umzusetzen und ein offenbar  defektes Auto auf den „InktOber“-Schriftzug aufzubocken, wobei das Hinterrad das große „O“ bildet. Vor allem wanderte das Hinterrad ein Stück nach vorne und ich habe mir einen Kofferaum mit Ersatzrad drauf ausgedacht, der hoffentlich den Eindruck eines prototypischen Oldtimers verstärkt.

Wenn ich etwas technisches aus vergangenen Zeiten zeichne, dann wächst währenddessen unweigerlich mein weitergehendes Interesse am Gegenstand, und so war es auch beim Ford Model T. Klar, viele wissen, dass es das erste in großer Serie produzierte Auto war, dass man es in jeder Farbe haben konnte, Hauptsache schwarz, und dass das Vehikel auf den Spitznamen „Tin Lizzy“ („Blechliesel“) hörte. Doch beim Festlesen im Internet stieß ich noch auf ein paar Aspekte, die mir tatsächlich neu waren – und überraschend.

Nachhaltiges Massenprodukt

So war die Konstruktion mit Bedacht so einfach, aber robust ausgeführt, dass sich das Model T nicht nur beliebig modifizieren, sondern auch ohne Spezialwerkzeuge einfach reparieren ließ, mit Ersatzteilen, die der gewöhnliche Eisenwarenhandel in den USA auf Lager hatte oder zumindest bestellen konnte. Technisch war das über 19 Jahre gefertigte Auto zwar schnell überholt, aber durchaus auf nachhaltige Nutzung getrimmt – davon könnten sich heutzutage die Autobauer mal eine Scheibe abschneiden. Trotz seines niedrigen Preises – 1914 wurde der auf 370 Dollar gesenkt, was in heutiger Kaufkraft umgerechnet etwa 8000 Euro entspricht, für einen Neuwagen(!) – war das Auto kein Billigprodukt mit eingebauter Obsoleszenz, dem man beim Wegrosten zuschauen konnte. Von den 15 Millionen Exemplaren, die allein in den USA gebaut wurden, soll angeblich noch rund ein Prozent existieren – das wären immerhin 150.000 Stück, die allesamt über 90 Jahre alt sind.

Allerdings könnte man so eine Antiquität mit dem Autofahrerwissen von heute kaum mehr einfach anwerfen und losfahren – und selbst das Praktische Autobuch von 1959 wäre nur von sehr begrenztem Nutzen. Zwar hatte die Standard-Tin-Lizzy wie heutige Autos drei Pedale, die dienten aber für Kupplung, Rückwärtsgang und Fußbremse. Gas gab man mit einem Hebel am Lenkrad, zusätzlich war noch ein Handbremshebel vorhanden. Beim Anlassen musste man nicht nur mit einer Handkurbel und einer manuell umzuschaltenden Zündung hantieren, sondern auch an einem Draht als Choke ziehen – die Prozedur gibt es etwa im Filmklassiker „Jenseits von Eden“ mit James Dean nach dem Roman von John Steinbeck zu sehen.

Das Auto als Plattform

Beim Fahren einer Tin Lizzy musste man noch viel mehr beachten – so gab es spezielle Zusatzbremsen für alle, die häufiger lange Berge runterfahren mussten; auf dem Weg nach oben hingegen konnten die Pleuellager trockenlaufen und der Motor Schaden nehmen, weil es keine Ölpumpe gab, sondern nur eine Schleuderschmierung. Eine Benzinpumpe war übrigens auch nicht vorhanden, der Sprit gelangte rein durch das Gefälle vom Tank in den Motor.

Seine sprichwörtliche Robustheit kam eben auch dadurch zustande, weil das Fahrzeug denkbar einfach konstruiert und eine dankbare Plattform für Zubehör-Lieferanten und Bastler war – oder wie man heute sagen würde: für Tuner und Maker. Über Hardware-Nachrüstungen scheint man in der Ford-T-Ära nicht diskutiert zu haben – sie wurden gemacht. Auf Basis der Tin Lizzy entstanden nicht nur diverse Karosserie-Varianten, sondern auch LKWs, ein Traktor und sogar ein Panzer. Und auch den heute trendigen Upcycling-Gedanken nahm Ford vorweg: Seinen Zulieferern machte die Firma genaue Vorgaben, wie groß die Holzkisten sein mussten, in denen diese ihre Bauteile lieferten. Die Kisten wurden zerlegt und von Ford ebenfalls verwendet – als Teile für das Modell T.

Infografik: 3D printing for the consumer market

In der Ausgabe 3/18 des Engine-Magazins ist auf Seite 45 eine handgezeichnete und englisch beschriftete Infografik von mir zu sehen. Thema ist eine Momentaufnahme: In welchem Spannungsfeld befindet sich gerade das Marktsegment der billigen 3D-Drucker für den Massenmarkt? Die Grafik im Heft illustriert einen Artikel von Karin Hirmer zum Thema Visualization und dient einfach als Beispiel für das Zusammenspiel von Grafik und Text.

(c) 2018 Peter König, visual-technotes.de / Alle Rechte vorbehalten

Die Zeichnung ist digital entstanden, auf einem iPad Pro mini mit Apple Pencil und der App Procreate. Für die schwarzen Linien benutze ich eine Fineliner-Pinselspitze, die ich mir selbst definiert habe.

Wer sich im Zeitraffer anschauen will, wie so eine Zeichnung entsteht, kann sich das im folgenden Video anschauen (Procreate erzeugt das dankenswerterweise automatisch nebenbei). Die reale Zeichenzeit betrug insgesamt etwa sechs Stunden.

Klassiker in Not – der Utah Teapot

Die Friesland Porzellanfabrik in Varel hat gestern angekündigt, zu Ende März 2019 nach 65 Jahren dichtzumachen. Das ist natürlich traurig – nicht nur, weil das Unternehmen seine Waren ausschließlich hierzulande produziert und dadurch viele Arbeitsplätze verloren gehen. Sondern auch, weil die Firma seit Jahrzehnten einen weltberühmten Star produziert, den paradoxerweise aber kaum jemand in der Porzellanabteilung suchen würde: den Utah Teapot.

(Bild: Friesland Porzellan)

Diese Teekanne kennen viele nämlich nicht aus der realen Welt, sondern aus dem virtuellen 3D-Raum. 1975 benötigte der Computergrafikforscher Martin Newell von der University of Utah einen mathematisch einfach zu beschreibenden, aber attraktiven Gegenstand und modellierte die Teekanne seiner Frau Sandra in 3D nach. Die Kanne wiederum war zwar in den USA gekauft worden, stammte aber ursprünglich aus Deutschland, eben aus jener Friesland Porzellanfabrik, welche die Kanne zwischen 1954 und 1991 unter dem Markennamen „Melitta“ herstellte. Produziert wird sie bis heute, in drei verschiedenen Größen, und inzwischen unter der Bezeichnung Utah Teapot.

Zwischendrin hieß sie auch mal schlicht „Haushaltsteekanne“. Denn in Varel hatte man lange Zeit gar keine Ahnung, welche Karriere der virtuelle Zwilling mittlerweile hingelegt hatte, wie die Kollegen von Radio Bremen bei einem Besuch in Varel im Mai erfuhren. Unbemerkt von der Porzellanfabrik mauserte sich die Daten-Version des Utah Teapot bald nach ihrer Modellierung durch Newell zu einem Standardobjekt in der frühen 3D-Computergrafik. Später, als ihre relativ schlichte Form für modernere Hardware und Render-Algorithmen keine Herausforderung mehr darstellte, hatte sich ihre typische Form bereits so im kollektiven Nerd-Gedächtnis eingebrannt, dass sie zum klassischen Meme wurde. Grafiker und Programmierer spendierten dem Teapot gerne Cameo-Auftritte in Animationsfilmen wie Toy Story oder auch in 3D-Software bis hin zum Windows-Bildschirmschoner.

Der „originale“ 3D-Utah-Teapot ist allerdings etwas anders geformt als das „echte“ Original von Friesland. Angeblich zeichnete Newell direkt am Teetisch eine Skizze der Kanne auf Papier und baute sie auf Grundlage seiner Zeichnung in der Uni in 3D nach.

Wer selbst noch einen realen, originalen Utah Teapot sein eigen nennen möchte, muss sich wohl leider sputen, denn wenn die Friesland Porzellanfabrik ihren Betrieb im kommenden Jahr einstellt, wird es irgendwann keine dieser Klassiker mehr zu kaufen geben. Aber vielleicht ergibt es ja so eine Art Crowdfunding, wenn jetzt noch genügend Leute ihrer Teekannensammlung dieses besondere Stück hinzufügen … Wir haben jedenfalls gerade eine bestellt.

InkTober: 31 Zeichnungen in 31 Tagen

In diesem Jahr habe ich erstmals beim Internet-Zeichenprojekt namens „InkTober“ mitgemacht. Das Kunstwort InkTober umfasst eigentlich schon alles, um was es geht: Wer Lust hat, zeichnet an jedem Tag im Oktober etwas mit Tusche (englisch: ink) und veröffentlicht es im Internet, im sozialen Netzwerk der Wahl, versehen mit dem Schlagwort #inktober oder #inktober2016 für die Aktion dieses Jahres.

Erfunden hat den InkTober der US-amerikanische Comiczeichner und Bilderbuchillustrator Jake Parker. Im Jahr 2009 wollte er seine zeichnerischen Fähigkeiten verbessern und stellte sich als Fingerübung selbst die Aufgabe, einen Monat lang jeden Tag eine Zeichnung zu machen. So wurde für ihn der Oktober 2009 zum InkTober – dem Tuschemonat. Diese Idee war ansteckend und inzwischen  beteiligen sich jedes Jahr viele tausend Zeichnerinnen und Zeichner am InkTober.

Meine täglichen Zeichnungen habe ich bei Instagram veröffentlicht – nicht an jedem Tag genau eine, aber immerhin alle innerhalb des vergangenen Oktobers. Hier gibt es sie aber noch mal in einer Übersicht:

Im Lauf der Tage und der Zeichnungen ist viel bei mir passiert – sowohl gestalterisch als auch technisch. Ein paar ausgewählte Aspekte davon will ich in den folgenden Blogposts beschreiben, die hoffentlich in den nächsten Tagen oder Wochen fertig werden.

Aufs Stichwort

Eigentlich gibt es für den InkTober keine weiteren Vorgaben, als jeden Tag zu zeichnen und die Ergebnisse im Netz zu veröffentlichen. Diese große Freiheit macht die Aufgabe aber noch anspruchsvoller, denn man braucht ja für jeden Tag auch eine neue Bildidee. Als Hilfe gibt es deshalb eine offizielle Stichwortliste von Jake Parker, an die ich mich nach anfänglichem Zögern dann doch gehalten habe (weshalb meine oben gezeigten Zeichnungen allsamt englische Titel tragen).

Eine einzige Ausnahme ist Bild Nummer 17: Eine Schlacht (Battle) konnte und wollte ich partout nicht zeichnen. Stattdessen habe ich für diesen Tag auf eine Zeichnung vom Wochenende zuvor zurückgegriffen, als ich zum ersten mal bei einem Treffen der Urban-Sketcher-Gruppe in Hannover dabei war.

Große Bandbreite

Seit Jake Parker im Jahr 2009 den ersten InkTober ausgerufen hat, haben sich weltweit immer mehr Zeichnerinnen und Zeichner der Aktion angeschlossen. Schon wenige Tage nach dem Start des InkTober 2016 meldete Parker, dass bereits über hunderttausend Beiträge auf den verschiedenen Plattformen veröffentlich worden wären.

Die Bandbreite ist dabei immens, sowohl was die Themen und Techniken, aber auch was den Anspruch und die Virtuosität angeht: Es beteiligen sich ebenso echte Zeichenanfänger wie jahrelang trainierte Hobbykünstlerinnen, aber auch etliche Profis aus dem grafischen Gewerbe am InkTober. Manche liefern brav und pünktlich täglich je eine Zeichnung ab, andere steuern im Lauf des InkTober nur zwei, drei Bilder in loser Folge bei. Viele produzieren ein recht homogenes Konvolut, zeichnen zum Beispiel einen Monat lang jeden Morgen die Fahrgäste, die mit ihnen zusammen im Bus sitzen. Andere widmen ihren gesamten InkTober sogar einem einzigen, zusammenhängendem Werk, wie Dani Diez, der den ganzen Monat über an einem Leporello arbeitete:

His Master’s Stroke

Auch wer sich an die Stichwortliste hält (sei es die offizielle von Jake Parker oder eine der vielen alternativen Begriffssammlungen, die parallel im Netz kursieren), kann damit dennoch sein ganz eigenes Thema kombinieren. So illustrierte etwa Brian Kesinger die Tagesthemen aus der Liste mit jeweils einem seiner Comic-Drachen, an denen ich als Betrachter viel Spaß hatte (und von denen sich ein entfernter Cousin dann am Tag 29 auch in eine meiner Zeichnungen mogelte):

Auch Jake Parker hat die 31 Begriffe seiner eigenen Stichwortliste mit selbst geschaffenen Protagonisten durchgespielt. Für eine Hauptfigur seines Buchs „Little Bot and Sparrow“ hat er sich eine Reihe neuer Situationen und Szenen ausgedacht und zu Papier gebracht. Manche von Parkers InkTober-Zeichnungen dieses Jahres scheinen direkt aufeinander zu folgen, ein durchgehender roter Faden fehlt allerdings. Deshalb nehme ich es dem Zeichner durchaus ab, wenn er auf Nachfrage versichert, dass er keine fertige Geschichte vorab im Kopf gehabt hat, als er seine Schlagwörter zusammengestellt hat.

Dass er auch seinen möglichen Vorsprung nicht ausgenutzt und heimlich vorgearbeitet hat, sieht man etwa auch an seinem Kommentar zur Zeichung vom 16. Oktober:

Ich finde es sehr sympathisch, dass der InkTober auch für Jake Parker selbst offenbar immer noch eine Herausforderung ist. Dass er während dieses Monats auch mal um und mit Ideen ringt, dass ihm die Zeit davonläuft. Und dass er insgesamt seine Zeichenaktion keineswegs als minutiös vorab durchgeplantes Marketing-Event für seine Bücher herunterspult, wie man vielleicht argwöhnen könnte, sondern wie alle anderen Mitzeichnerinnen und Mitzeichner das Risiko des Scheiterns nicht scheut – mit jedem Tag und jeder Zeichnung aufs neue.

Flying Circuits – warum eigentlich?

Hinweis: Dieser Beitrag wurde geschrieben, als dieses Blog noch Flying Circuits hieß und unter folgendem Headerbild erschien:

Als ich Kind war, bekam mein Vater mal ein Buch geschenkt, das Der fliegende Zirkus der Physik hieß. Auf dem gezeichneten Cover war ein ziemlich fusseliger Pilot zu sehen, der ein reichlich handgestrickt wirkendes Flugobjekt offenbar souverän in der Luft hält – sicher unter geschickter Ausnutzung allerlei physikalischer Phänomene, die das Buch erklärte. (Das Buch gibt es bis heute zu kaufen, das Cover sieht inzwischen allerdings anders aus.)

Dass man eine bunte Zusammenstellung unterhaltsamer Dinge als Fliegenden Zirkus bezeichnen kann, hat sich damals bei mir festgesetzt. Und als ich Jahre später auch noch Monty Python’s Flying Circus entdeckte, bestätigte sich das nochmals.

Flying Circuit

Wieder viel später suchte ich einen Namen für ein geplantes Blog, das sich auf bunte Weise mit Technik beschäftigen sollte. Inzwischen war ich Informatiker und Journalist geworden, arbeitete bei der Computerzeitschift c’t, und dachte deshalb beim Stichwort Technik auch an Elektronik. Die fasziniert mich, auch wenn (oder gerade weil) sie bis heute alles andere als meine Kernkompetenz ist. Liest man im Internet viel über Elektronik, taucht dabei gehäuft der Begriff circuit auf, englisch für Schaltkreis. Und irgendwann fiel der Groschen: Fügt man in einen Flying Circus zwei zusätzliche Buchstaben ein, werden daraus Flying Circuits, also fliegende Schaltkreise, was ziemlich genau die hochfliegende Vision beschreibt, die ich für mein Blog hatte. Die steckt heute noch im – inzwischen eher ironischen – Motto: „Irgendwann baue ich Vakuumluftschiffe, analoge Synthesizer und Radiermaschinen.“

Doppeldeutig

Ja, Englisch ist für mich eine echte Fremdsprache. Ich verstehe zwar ziemlich viel, aber manches eben doch nicht in allen Facetten. So fiel mir auch erst viel später beim Googlen auf, dass Flying Circuits im Englischen nicht in erster Linie ein Wortspiel ist, sondern eine ganz klare Bedeutung hat: Damit bezeichnet man Rundkurse, die ein Flugzeug fliegt, etwa bei der Pilotenausbildung zum Üben von Start und Landung, aber auch die Warteschleifen bis zur Landeerlaubnis, die eine Verkehrsmaschine über einem verkehrsreichen Flughafen dreht.

Ehrlich gesagt: Inzwischen gefällt mir diese zweite Bedeutung sehr gut. Denn wie das Motto dieses Blogs schon betont, baue ich die Vakuumluftschiffe, analogen Synthesizer und Radiermaschinen ja erst irgendwann – und bis dahin lasse ich mich von allem möglichen ablenken, was mich interessiert und was im weitesten Sinne mit Technik, Geschichte und Ästhetik zu tun hat. Ich ziehe auch in diesem Blog viele gewundene Warteschleifen – der Treibstoff kann mir dabei ja glücklicherweise nicht ausgehen.

Flying Circus, mal wörtlich genommen


Fußnote: Die englische Wikipedia definiert einen Flying Circus auf der Begriffsklärungsseite als Truppe von Barnstormers. Solche Scheunenstürmer zogen in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg mit ihren Flugzeugen, die aus der Rüstungsproduktion übriggeblieben waren, als Schausteller der Lüfte durch die ländlichen Gegenden in den USA. Sie boten Rundflüge an, veranstalteten aber auch Flugshows mit spektakulären Vorführungen, bei denen sie etwa durch Scheunen flogen – daher ihre Bezeichnung. Wer gerne mal selbst ausprobieren will, wie sich das anfühlt: Im Flight Simulator 2004 von Microsoft gibt es ein passendes Szenario, zu absolvieren mit einer etwas zurückhaltend motorisierten Curtiss JN-4 „Jenny“.

Eigentlich ist der Begriff Flying Circus aber noch ein paar Jahre älter und stammt direkt aus dem ersten Weltkrieg, was ihm einen bitteren Beigeschmack verleiht, jedenfalls für einen Pazifisten wie mich. Im Jahr 1917 wurde rund um den Jagdflieger Manfred von Richthofen ein Elite-Geschwader gebildet, das in Zelten kampierte und samt Flugzeugen, Sack und Pack per Lastwagen von Einsatzort zu Einsatzort gekarrt wurde wie ein Wanderzirkus. Außerdem waren die Flugzeuge der Truppe knallbunt bemalt, sah eher nach Schaustellerei als nach Militär aus – man setzte bewusst auf Warnfarben statt auf die sonst üblichen Tarnfarben. Beides zusammen brachte dem Geschwader bei den Briten den Namen Richthofen’s Flying Circus ein. Ich hoffe allerdings, dass es den meisten heutzutage geht wie mir: Dass sie bei Flying Circus eher an John Cleese & Co. als an den Roten Baron denken.

Allegorien auf die Zukunft von gestern

Das Göteborger Kunstmuseum ist ein leicht wuchtig geratenes Gebäude aus den 20er Jahren, mit reichlich Treppenstufen davor, die zwischen den mächtigen Säulen und unter den Rundbögen der Fassade irgendwie in einem zugigen Nichts enden. Hat man sich aber im Inneren geduldig ganz nach oben gearbeitet, findet man dort die sogenannte Fürstenberg-Galerie. Diese erhielt ihren Namen nach dem Kunstmäzen Pontus Fürstenberg (1827–1902), der besonders die skandinavischen Künstler kurz vor der Jahrhundertwende wie Carl Larsson, Ernst Josephson und Anders Zorn förderte und ihre Werke kaufte.

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Die Räume dieser Galerie – in denen man unter anderem Bilder der ebengenannten Maler findet – wirken, als wären sie älter als das Gebäude selbst, das sie beherbergt. Die Innenausstattung mit farbigen Wänden, Stuck an der Decke, Eichenparkett, Teppichen und historisierenden dunklen Holzmöbeln sieht so gar nicht nach der Zeit des Nordischen Klassizismus aus, in dessen Geist das Kunstmuseum gebaut wurde. Vermutlich hat man in der Fürstenberg-Galerie die Szenerie älterer Räumlichkeiten nachgebaut, mit allen Dekorationselementen.

Diese Dekoration ist in der Tat ungewöhnlich: Auf den Stuckfriesen, üben denen die Wände in einer großzügigen Hohlkehle in die Decke übergehen, tummeln sich sechs allegorische Paare lebensgroßer Akte. Und während man gewohnt ist, dass solche Plastiken irgendwelche biblischen Tugenden oder Laster oder sonstige philosophische Konzepte verkörpern, hat dieses Dutzend Nackte viel handfesteres zu kommunizieren – moderne Technik.

Telefon

Das Telefon. Offensichtlich noch mit schlechter Tonqualität, die es erforderte, die Ohren scharf zu spitzen.

Kamera

Die Fotografie. Links macht sich das Modell hübsch, rechts nimmt die Fotografin den Deckel vom Objektiv ab, um die Belichtung zu starten.

Magnetismus

Das ist schon schwieriger. Dargestellt wird der Magnetismus, zu erkennen am Hufeisenmagnet. Die etwas weggetreten wirkende Dame links spielt vielleicht auf Franz Anton Mesmer an, der im 18. Jahrhundert Leuten Magneten aufgelegt haben soll, um sie zu hypnotisieren.

Dampf

Der Kessel in der Mitte macht es klar: Hier geht es um Dampf, damals das Mittel der Wahl zur Energieerzeugung. Auch wenn die beiden flankierenden Figuren eher benebelt wirken – oder wie kurz davor, sich wegen der Hitze von der höchsten Bank in der Sauna herunterzurollen.

Elektrizitaet

Die Elektrizität. Die beiden Figuren links und rechts holen sich Schläge an der Elektrisiermaschine in der Mitte. Das Medaillon ist leider auf dem Bild nur schlecht zu erkennen, aber die beiden hellen Punkte und der schwarze Fleck drumherum sind eine Katze auf der Schulter einer Dame – und ein mit Bernstein geriebenes Katzenfell war eines der frühen bekannten Beispiele für elektrostatische Aufladung.

Dynamit

Das ist wirklich schwer, ich musste auch erst auf den Erklärtext schauen: Diese Gruppe stellt das Dynamit dar – es erschreckt durch den Knall (wie man bei der Figur im Medaillon sieht) und ist in der Lage, Felsen zu spalten.

Die Figuren wurden samt und sonders vom wenig bekannten Bildhauer Per Hasselberg geschaffen. Bei den gemalten Medaillons waren verschiedene Künstler am Werk: Das Telefon-Bild schuf zum Beispiel Georg Pauli, der später einer der ersten Kubisten Schwedens wurde; den Dynamit-Schrecken pinselte Ernst Josephson, die elektrische Katze mit ihrer Besitzerin malte Carl Larsson.

Die gute böse Tante Ju

Am vergangenen Samstag ist die letzte flugfähige und in Deutschland zugelassene Maschine des Typs Junkers Ju 52/3m von der Kulturbehörde in Hamburg als „bewegliches Denkmal“ unter Schutz gestellt worden. Ein Fest für viele Technik-Nostalgiker. Und ich muss zugeben: Auch ich laufe zum nächsten Fenster und versuche, den silber-schwarzen Wellblechvogel zu erspähen, sobald ich das unverwechselbare Brüllen seiner drei Pratt&Whitney-Wasp-Sternmotoren höre.

Ju2014

Doch ein gewisses Unbehangen ist immer dabei, als werfe das fliegende Museumsstück einen langen kalten Schatten auf die Erde. Dabei ist das Image der „Tante Ju“ in Deutschland überwältigend positiv. Es beruht auf einer – einseitigen – kollektiven Erinnerung an die Maschine als sagenhaft zuverlässiges Verkehrsflugzeug, das sich mit einer kurzen (auch behelfsmäßigen) Start- und Landebahn begnügte und auch aus schwierigen Situationen eigentlich immer wieder rauskam. Die Ju 52 ist offenbar immer noch ein derart ein starker Sympathieträger, dass die Lufthansa in den 90er Jahren ein altes Plakatmotiv mit ihr als Werbung auf Postkarten druckte, als nostalgische Reminiszenz an eine gute alte Zeit:

AuchImWinter

Gute alte Zeit? Die ersten Exemplare der Ju 52 wurden zwar schon 1932 ausgeliefert, aber ihre große Zeit erlebte die „Tante Ju“ im nationalsozialistischen Deutschland – als Passagier- oder Frachtflugzeug im zivilen Einsatz, aber auch als Militärmaschine. Mehr noch: Lange bevor es den Begriff des „Dual-Use“ überhaupt gab (heute bezeichnet er die prinzipielle Verwendbarkeit einer Sache sowohl für zivile als auch militärische Zwecke), war die Ju 52 gezielt für genau diesen Doppelnutzen entworfen worden: Das Reichswehrministerium nahm großen Einfluss auf die Entwicklung der Maschine, mit der Folge, dass am Ende jede jemals gebaute Ju 52 ohne Umbauten auch direkt im Krieg eingesetzt werden konnte. So gab es eine Ladeluke an der Rumpfoberseite, die den nachträglichen Einbau eines Maschinengewehrstandes ermöglichte. Zwischen den beiden Hälften des geteilten Fahrgestells war genügend Platz, um Bomben aufzuhängen. Die wurden zum Beispiel im spanischen Bürgerkrieg von den Ju-52-Maschinen der deutschen Legion Condor auf die baskische Stadt Guernica abgeworfen.

Wenn jetzt die letzte deutsche Ju 52 offiziell zum fliegenden Denkmal gekürt wird, sollte auch aktiv an ihre dunkle Seite erinnert werden. Sonst geht man vor lauter Techniknostalgie der Mär einer guten alten Zeit am Ende noch auf den Leim.

Männer, die in Brillen starren – Erzählungen aus der virtuellen Realität

Virtual Reality – kurz: VR – war schon ein heißes Thema, als ich vor über zehn Jahren Informatik an der Uni Bremen studiert habe. In der Praxis sah Virtual Reality damals so aus: Man baute eigens einen Raum auf, eine sogenannte Cave. Deren Wände waren idealerweise gewölbt, damit die künstliche Welt nicht durch störende Ecken unterbrochen wurde – denn auf diese Wände projizierten mehrere Beamer synchron die Simulation einer in Echtzeit und 3D berechneten Umgebung.

Staken durch den virtuellen Dschungel

An zwei studentische Projekte aus dem Jahr 2004 erinnere ich mich noch besonders gut: Bei einem stakte man auf einem Floß durch die vorbeiziehende 3D-Grafik eines Dschungels (in dem gab es animierte Säbelzahltiger und andere Monster, die seltsam blaue Haut hatten). Das Floß rührte sich dabei nicht wirklich vom Fleck, lediglich die Bewegung der Stange in der Hand des Benutzers wurde von Sensoren erfasst und beeinflusste dadurch das Tempo, in dem die Landschaft in der Projektion achteraus glitt.

Die Technik unter dem fliegenden Teppich

Beim anderen VR-Projekt ging es rasanter zu, denn da kurvte man auf einem fliegenden Teppich durch die Luft. Der Teppich war auf eine Holzplatte geklebt, in zwei Achsen beweglich gelagert und pneumatisch (oder hydraulisch?) gedämpft. Man konnte seine Ausrichtung durch Verlagern des eigenen Gewichts verändern und dadurch den Teppich steuern. Hatte man Tempo aufgenommen, blies einem sogar Fahrtwind ins Gesicht – auf dem folgenden Foto ist am Rand des projizierten Himmels oben der Luftauslass für die Windmaschine zu erkennen.

Fliegen auf dem Teppich durch die VR

Die Idee der VR erlebt gerade wieder eine Renaissance. Allerdings hat sie sich aus ihren Caves befreit und steckt kompakt in Brillen, in die man nur hinein-, aber nicht hindurchsehen kann, und die an zugeklebte Tauchermasken erinnern.

Solche Brillen wie die Oculus Rift oder die Samsung Gear VR haben den unschlagbaren Vorteil, dass man nicht mehr einen kompletten Raum umbauen muss, um in die virtuelle Realität einzutauchen. Auf der anderen Seite kann so ein Sichtgerät immer nur bei einem Benutzer zur Zeit auf der Nase sitzen. Und so ist das Internet voll mit Videos von Leuten, die in undurchsichtige Brillen schauen, den Kopf hin und her drehen und ihren Zuschauern dabei erzählen, was sie gerade erleben. Damit wird über eine Technik, die vielen noch wie Zukunfstmusik vorkommen mag, auf eine Weise kommuniziert, die schon die Epen Homers durch die Jahrtausende trug: Durch Erzählen und Zuhören.

Das hat handfeste Gründe. Bei der Samsung Gear VR zum Beispiel läuft die gesamte VR-Darstellung auf einem handelsüblichen Smartphone – versucht man, auf demselben Gerät die live erzeugten stereoskopischen Videos mitzuschneiden, geht die Hardware in die Knie und die virtuelle Welt fängt an zu ruckeln. Aber selbst bei Systemen, die nicht mit diesem Problem kämpfen, etwa der Oculus Rift, ist der Mitschnitt der Videos nur ein müder Abklatsch des eigentlichen Erlebnisses: Der räumliche Eindruck stellt sich nicht ein, wenn man die Bilder für beide Augen einfach nur so nebeneinander auf dem Bildschirm sieht. Die Darstellung erscheint verzerrt, weil die kalkulierte Verzeichnung durch die eingebauten Linsen der Brille fehlt. Die Bilder füllen längst nicht das gesamte Gesichtsfeld aus. Vor allem reagiert die Darstellung nicht auf eigene Kopfbewegungen. All dies macht aber gerade den Eindruck aus, mit Haut und Haaren in die simulierte Welt einzutauchen. Da bleibt wirklich nur, es selbst zu erleben und davon zu erzählen.

Und ja, es ist eine wirklich intensive Erfahrung, die noch am ehesten mit einem sehr plastischen Traum zu vergleichen ist.

Verlorene Welten

Manchmal schlägt das Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen in der Mittagspause seltsame Wege ein. So redeten wir kürzlich über Berlin und meine Gedanken rutschten unversehens zurück in die frühen 90er Jahre. Damals war ich spätestens alle paar Monate in Berlin – ich kannte dort Leute und wollte so oft wie möglich raus aus der badischen Provinz, wo ich meinen Zivi leistete, und hinein in die große Stadt. Und obwohl ich fast zwanzig Jahre nicht mehr daran gedacht hatte, fiel mir plötzlich wieder ein seltsamer Laden ein: die Blei Bar in der Fehrbelliner Straße (Hausnummer 6, wenn ich mich nicht irre).

Als Landei war ich offenbar so schwer von der Blei Bar beeindruckt, dass ich einen kleinen Text darüber schrieb. Weil das schon auf einem Computer passierte (der meinem Mitbewohner gehörte und auf dem übrigens noch kein Windows lief), entstand dieser Text bereits digital. So hat er sich in meinem von Rechner zu Rechner stets mitgezogenen Datenbestand bis heute erhalten:

„Die Blei Bar befand sich im Erdgeschoß eines ansonsten wohl leerstehenden Ziegelbaues aus der Gründerzeit, von dem – wie in diesem Viertel üblich – die Zementfassade gleich in Stücken von halben Quadratmetern abfiel. Alle Fenster waren verammelt, nur neben der abgestoßenen Haustüre glomm ein schwaches, zinnoberrotes Licht hinter einer blinden Opalglasscheibe, die mit kleinen eingeschliffenen Sternchen gemustert war. Auf die Scheibe hatte jemand kaum sichtbar und linkisch mit taubenblauem Lack aufgesprüht: Blei Bar. Aber das konnte man eigentlich erst lesen, wenn man schon wußte, was es heißen sollte.

Der Hausflur war stockdunkel, nach links führte ein schwach erleuchteter Gang ab, der an einer Tür endete. Schon hier war die Musik ohrenbetäubend. Denn hinter einem groben Mauerdurchbruch links vor der Tür lag die Bar: ein vollkommen kahles Zimmer von vielleicht sechs Metern im Quadrat, das eine Theke aus Stahlblech, fünf Barhocker, ein Sperrmüllsofa und eine Musikanlage enthielt. Auf dem einen Ende der Theke stand eine weinflaschenhohe Glühbirne mit gewendelten schwarzen Plastikfuß, deren Glühfaden die Form eines Edelweiß hatte. Das andere Ende der Theke zierte eine dreidimensionale Uhr mit Zeigern aus bunten Plastikfäden und Flitterbüschen, von unten beleuchtet, das ganze unter einer Art pyramidenförmigen Plexiglassturz gefangen. Auf der Theke standen sonst noch ein paar Bierflaschen und ein Diaprojektor. Der warf ein gemaltes Bild an die Wand: Jemand (der vielleicht noch ein Kind war) hatte auf blaue Folie ein seltsames Tier mit Hörnern gekrakelt und daneben „Kuh“ geschrieben. Über dem Sofa war mit roter Farbe eine Spirale von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser auf die Wand gepinselt, als hätte die Wand voll werden sollen, aber die Lust hatte nicht dafür gereicht. Ansonsten gab es überhaupt nichts: Mehr Details berichten hieße Kippen und Kronenkorken auf dem Boden zählen.

Morgens um drei, als wir in die Blei Bar kamen, waren dort fünf Leute. Einer beschäftigte sich mit der Musikanlage, die in in Presslufthammerlautstärke pulsierte. Zwei standen an der Theke und spielten Domino.  Einer hing am Fenster, hatte eine Postuniform an und hielt ein Weizenglas in der Hand. Am Diaprojektor fummelte ein blondes Mädchen in Kittelschürze herum, die eine blaue Sonnenbrille und eine hohe Ballonmütze aus rotem, steifen Filz trug. 

Die Toilette lag auf der anderen Seite des Flures und hatte eine zwei Meter breite Holztür, die jeweils ein Schild „Damen“ und „Herren“ trug. Der Raum war größer als die Bar selbst, enthielt aber nur eine einzige Schüssel, die in eine Ecke geflohen zu sein schien. Es gab noch ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber, an dem ein Strauß trockner Rosen hing. Das Ganze erhellte eine Glühbirne, die in zwei aneinandergeschraubten Trabi-Rücklichtern steckte.“

Heute bekommt man nicht mehr viel raus über die Blei Bar. Im Internet hat sie jedenfalls keine direkten Spuren hinterlassen, denn das Netz gab es 1993 eben noch nicht. Immerhin habe ich dort ein Foto gefunden. Es stammt von der Fotografin Eva Otaño Ugarte und es wurde offenbar 2010 in einer Ausstellung gezeigt. Da gab es das Internet schon, und deshalb ist das Bild auch hier zu sehen:

Wo auf dem Bild links vorne der Schaukelstuhl steht, befand sich in meiner Erinnerung (die sich vor allem auf den Text oben stützt) das Sofa. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich die Bar alleine nach dem Foto gar nicht wiedererkannt.

Eigentlich ist es Glück und Zufall, dass von der Blei Bar überhaupt ein Foto existiert. Damals hatte eigentlich niemand eine Kamera dabei. Man hatte auch kein Telefon dabei. In einem Club wie der Blei Bar konnten sich eigentlich alle sicher sein, weder angerufen noch fotografiert zu werden.

Keine Angst – es folgt hier jetzt kein Lamento, dass früher alles besser war, weil man damals ach so wilde Dinge tun konnte, ohne fürchten zu müssen, dass am nächsten Morgen das ganze Netz davon weiß. (So wild war das Leben damals auch nicht, jedenfalls meins nicht). Nein, im Gegenteil: Ich finde es schade, dass ich vor zwanzig Jahren eigentlich nie eine Kamera dabeihatte; es sei denn, ich zog vorsätzlich los, um Fotos zu machen.

Heute ist das anders – und ich finde es toll.

T_collage

Alles, woran ich mich später erinnern möchte, kann ich jetzt mal eben schnell mit meinem Telefon fotografieren. Das sind heute nicht mehr so oft Szenen aus der Kneipe, immer öfter hingegen Poster, Plakate, Graffiti, Lichtsituationen. So fiel mir zum Beispiel neulich ein Plakat mit einem wunderschönen Hintergrundmotiv auf. Ich habe den Bildnachweis fotografiert, hatte dann den Namen des Künstlers, konnte den googeln und fand das Bild wieder: les mondes engloutis (= die verlorenen Welten) von Tom Haugomat:

Klar, im Prinzip wäre das auch früher gegangen, ich hätte mir vor zwanzig Jahren den Namen des Grafikers einfach aufschreiben können. Nur: Was hätte ich dann damit angefangen? Wie hätte ich jemals mehr über ihn herausfinden können, mehr Bilder von ihm zu Gesicht bekommen können, von einem Illustrator im fernen Paris, in den Zeiten vor dem Internet?

Ich kann mich daran erinnern, dass ich in der Blei-Bar-Zeit mal in einer Berliner Hinterhofgalerie-Ausstellung eine Radierung sah, ein Porträt, das mich sehr faszinierte. Es sollte zwar keine hundert Mark kosten, aber soviel Geld hatte ich damals nicht. Vielleicht habe ich mir sogar den Namen des Künstlers oder der Künstlerin irgendwo aufgeschrieben und den Zettel dann verlegt, später mal wiedergefunden, die Verbindung zum Bild nicht mehr hergestellt und ihn dann weggeworfen. Wie auch immer das war, mir bleibt nur die Erinnerung daran, dass ich mal ein solches Bild gesehen habe – die Erinnerung an das Bild selbst ist längst verblasst, genauso wie die Erinnerung an die Paraphrase darauf, die ich davon mal selbst gemalt und anschließend verschenkt habe…

Besser, ich schreibe solche Notizen heute gleich ins Internet. Denn es heißt ja immer: Das Internet vergisst nichts. Das könnte ja auch mal seine guten Seiten haben.